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Reinhard Mohr

Das Christentum sah den Menschen als Ebenbild Gottes, im Humanismus der Aufklärung triumphierte die Vorstellung vom allseits entwickelten freien Individuum, und im marxistischen Kommunismusmodell kulminierte der Glaube an das Gute im Menschen, der nur durch die ungerechten Besitzverhältnisse an seiner freien Entfaltung gehindert werde. Doch leider hat sich herausgestellt, dass der Mitmensch trotz aller Bemühungen um Erziehung, Emanzipation und Integration eben nicht immer hilfreich, edel und gut, sondern allzu oft eine arge Plage geblieben ist. Er ist weder rücksichtsvoller Zeitgenosse noch höflicher Gesprächspartner mit Witz und Manieren, sondern nicht selten ein Störenfried erster Ordnung. Schlimmer noch: In der unübersichtlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts lösen sich überkommene Traditionen, Regeln und Sitten auf, und mit den neuen Umgangsformen kann man so seine Schwierigkeiten haben. Reinhard Mohrs ebenso scharfsinnige wie (selbst)ironische Beobachtungen sind nicht nur eine witzige und unterhaltsame Sittenskizze, sondern auch ein kleines, böses Gesellschaftspanorama vom Zeitgeist 2010.

Man braucht kein Stadtneurotiker zu sein, um Mohrs Gedanken folgen zu können. In kurzen Texten lässt er ordentlich vom Stapel und zwar über Nachbarn, Mütter, Touristen und Arbeitskollegen. Rücksicht war gestern, Privatleben gehört ins Zugabteil und die Gespräche des Tischnachbarn im Restaurant sind oft skurril und nervig.

Liest sich alles wie schon einmal gelesen und auch dafür liefert Mohr die einleuchtende Erklärung: Über all die Themen, die er in seinem Buch abhandelt wurde bereits geschrieben, sei es Tucholsky, Wittgenstein oder Kant. Wer sich in den beschriebenen Situationen nicht selbst als „Gestörter“ oder „Störer“ wieder erkennt, der ist herzlich zu beglückwünschen.

Eigene Meinung
Mittlerweile hasse ich es, in Büchern über Latte Macchiato lesen zu müssen. Bereits in Generation Golf wurde dieses Espresso-Milch-Mixgetränk ausreichend in Verbindung mit normalen und anscheinend weniger normalen Menschen beschrieben. Ob nun Lifestyle oder andere Vorlieben, irgendwann muss Schluss sein mit Latte Macchiato in Büchern.

Was Neues erfährt man in Mohrs Werk nicht. Das Leben in der Großstadt ist mit vielen Phänomenen verbunden. Zuweilen hat man das Gefühl, der Autor schreibe eine Hasspredigt auf die Mitmenschen, doch dem ist nicht so. Auf sehr angenehmen Niveau schreibt Reinhard Mohr über sich und seine Mitmenschen und damit uns alle. Denn man muss ihm zu guter Letzt Recht geben. Störenfriede sind stets die anderen.

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